Tour de Amazon

Der erste Advent naht – Einkaufszentren und Händler rüsten sich für die Besucher, die ihren Liebsten viele tolle Geschenke unter den Baum legen möchten. Auch der Internetriese Amazon bringt sich in Stellung: Die Logistikzentren werden personell aufgerüstet, die Adventsrabattangebote sind angelaufen. Die Zahlen sehen gut aus, das Weihnachtsgeschäft brummt. Was ist geblieben von der vielen Kritik am Onlinehändler?

Prognosen abgeben möchte der Pressesprecher nicht, aber es wäre verwunderlich, wenn Volumen und Umsatz des Marktführers nicht auch dieses Jahr steigen würden. Es ist aber auch so einfach: Mit einigen wenigen Klicks die komplette Geschenkpalette bestellen. Auch nach der ARD-Dokumentation, die im Februar vergangenen Jahres zu einer großen Welle der Empörung geführt hat, kaufen die Leute wie verrückt bei Amazon ein. Aus den Augen, aus dem Sinn? Heißt es nach einem heftigen Sturm der Entrüstung „business as usual“? Wie ist es denn nun mit den Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter? Sind sie letztendlich nicht so schlecht wie im Film dargestellt?

Mitte November, Logistikzentrum Koblenz: Pressesprecher Stefan Rupp und der stellvertretende Niederlassungsleiter Nikolai Lisac begrüßen die Medienvertreter. Auf dem Plan steht eine Tour durch die Werkhalle. An der Wand im Konferenzraum stehen die „goldenen Regeln“: „Know your plan“ und „nail your plan“. Es erinnert an „yes, we can“: Motivationsstrategie auf amerikanisch. Schnittchen und Saft steht bereit. Die schicken Pressemappen mit USB-Stick und Visitenkarte sind schon ausgelegt. Es geht los mit einem Vortrag, klassischerweise Powerpoint: Es werden Erfolgszahlen präsentiert, auch auf die Arbeitsbedingungen und Fortbildungschancen der Mitarbeiter wird detailliert eingegangen. Wussten Sie, dass Amazon-Mitarbeiter nach dem zweiten Jahr Aktien erhalten? Dass Lagerhallen normalerweise nicht klimatisiert sind, aber Amazon sommers wie winters die Temperatur auf 21 bis 22 Grad hält?

Das Gehalt und die befristeten Arbeitsverträge sind die am meisten kritisierten Punkte bei dem Internetgiganten. Bei Amazon in Koblenz steigt man mit einem Gehalt von 10,11 Euro ein (Saisonmitarbeiter verdienen laut Amazon übrigens das gleiche wie die Festangestellten). Andernorts kann es auch schonmal 9,75 Euro sein. Man könnte sich jetzt darüber streiten, ob das ein angemessener Gegenwert für eine Tätigkeit ist, bei der man acht Stunden lang Regale einräumt, Sachen durch die Gegend fährt oder Pakete packt. Es liegt zumindest oberhalb des Mindestlohns. Man sollte auch bedenken, dass man für diese Arbeit keinerlei Vorerfahrungen braucht (Amazon gibt an, dass man innerhalb innerhalb von vier Tagen eingearbeitet ist), auch ungelernte Arbeitskräfte erhalten somit eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. 50% der Mitarbeiter, die am Standort Koblenz angefangen haben, seien aus der Arbeitslosigkeit gekommen, so der Pressesprecher. Bei 300 Leuten, die gestartet sind, wären das 150 Menschen, denen Amazon eine neue Chance gegeben hat. Das könnte sich in der Tat sehen lassen. Wenn einem da nur nicht die Diskussionen einfallen würde, die vor einigen Jahren in den Medien geführt wurde: Amazon wurde damals nachgesagt, Arbeitslose zu beschäftigen, deren Gehalt von der Agentur für Arbeit gezahlt wurde. Nach Ablauf der Maßnahme seien die Arbeiter, statt in ein reguläres Arbeitsverhältnis übernommen zu werden, „entlassen“ worden und es wurden angeblich einfach die nächsten eingestellt.

Moralische Verantwortung der Unternehmer?

Auch weniger schön ist, dass viele Verträge unbefristet sind. Bei Amazon arbeiten neben unbefristeten Mitarbeitern und den klassischen Saisonkräften, die meist für Weihnachten eingestellt werden, auch das ganze Jahr über unbefristete Kräfte. Zahlen möchte das Unternehmen (verständlicherweise) nicht nennen. „Alles im Rahmen des Gesetzlichen“, bestätigt der Pressesprecher. Aber muss man alles ausreizen, nur weil es legal ist? Gibt es eine moralische Verpflichtung zur Entfristung? Diese Frage wirft der Pressesprecher in den Raum. Man sieht ihm an, dass er für sich die Antwort festgelegt hat. Doch wie würde man selbst darauf antworten: Haben Unternehmen eine moralische Verantwortung?

Früher bauten die Unternehmer Häuser für ihre Mitarbeiter, wie beispielsweise die Familie des Papierunternehmers Zanders in Bergisch Gladbach oder die stahlverarbeitende Krupp-Dynastie in Essen. Selbstverständlich war diese Maßnahme nicht uneigennützig, aber das verlangt ja auch niemand von Unternehmen. Es war eine klassische „Win-win“-Situation, wie es im Neudeutschen so schön heißt: Die Arbeiter hatten ein warmes Dach über dem Kopf, die Unternehmen gesunde und loyale Arbeitskräfte. Doch kann ein so riesiges, weltumspannendes Unternehmen wie Amazon überhaupt die Bedürfnisse eines einzelnen Mitarbeiters im Blick haben? Professionalisierung und Automatisierung machen individuelle Lösungen schwer.
Fakt ist auch, dass Amazon nicht das einzige Unternehmen ist, das mit in Verruf geratenen Befristungs-Praktiken arbeitet: In der Logistikbranche ist dies gang und gebe. Auch Deutsche Post DHL steht in schöner Regelmäßigkeit am Pranger. Im Sommer ging ein Fall durch die Medien, in dem der Vertrag eine Mitarbeiterin angeblich 88-Mal verlängert worden war.

Der Pionier: Eine Gummibärchentüte

Zurück im Logistikzentrum Koblenz. Die Führung hat angefangen. Vorweg weist der stellvertretende Niederlassungsleiter den Weg, es folgen vier Medienvertreter und der Pressesprecher, flankiert wird die Truppe von einer Assistentin. Auf vier Medienvertreter kommen drei Amazon-Vertreter, macht eine Quote von 0,75 PR-Mensch auf Pressemensch. Eine recht hohe Quote.
Das kleine Grüppchen geht von einer riesigen Halle zur nächsten. Förderbänder, auf denen die Ware ausgepackt wird, Regalreihen, in denen die Ware wieder einsortiert wird, Arbeitsplätze, an denen Menschen sitzen oder stehen und Pakete packen. Die Böden sind mit farbigen Linien markiert und aufgeteilt, die Besucher lernen: Blau bedeutet – sicheres Terrain für Fußgänger. Es könnte sonst ein Gabelstapler um die Ecke gesaust kommen. Die Mitarbeiter grüßen freundlich, schauen interessiert. Gehetzt wirkt keiner, es trödelt aber auch niemand. Der stellvertretende Niederlassungsleiter führt durch die Halle, auf seiner Weste steht: „Teamleitung. Frage mich!“ Immer wieder sieht man Wände mit angepinnten Verbesserungsvorschlägen, stolz erzählt der Amazon-Manager davon, wie die Mitarbeiter mithelfen, Arbeitsläufe zu optimieren. In den Regalreihen: Spielzeug, DVDs, Niveashampoo neben Monopoly, Haustier Tracking Module neben Badmintonschläger. Es gibt tatsächlich alles bei Amazon. Lustigerweise war das erste Produkt, was das Koblenzer Zentrum verschickt hat, eine Gummibärchentüte. Die „Picker“, die Mitarbeiter, die die bestellten Produkte aus den Regalen nehmen wuseln emsig durch die Gassen. Weiter geht es zu den Verpackungsstationen, wo Arbeiter geübt Sachen einpacken, scannen, aufs Band legen.

Man selber möchte so nicht arbeiten, das wird einem nach dem Rundgang klar. Den ganzen Tag die gleiche Tätigkeit ausführen, keine Abwechslung zu haben. Aber diese Tätigkeit als jemand zu machen, der auf dem Arbeitsmarkt weniger gute Chancen hat und dann am Ende des Monats mit knapp 2000 brutto rauskommt – das ist nicht das allerschlechteste. Die Befristung wäre eher anzuprangern, weil Leute so nicht ihr Leben planen können. Oder dass Internetriesen wie Amazon den Einzelhandel ausbooten und Innenstädte veröden lassen, das wiegt viel gravierender. Letztendlich muss jeder Kunde selber entscheiden: Will man dieses System unterstützen, will man bequem mit einem Klick alle Weihnachtsgeschenke beisammen haben – mit allen negativen Konsequenzen, die das möglicherweise für die Arbeiter bedeutet? Deutet man die Entwicklung einfach als Zeitgeist, Fortschritt, Konsequenz der Globalisierung? Oder wendet man mehr Zeit und Mühe auf, um ein anderes System zu fördern, das möglicherwiese veraltet und überholt ist und was man nur noch um seiner selbst Willen am Leben erhält? Doch es ist nicht nur eine theoretische Frage, sondern man muss sich auch praktische Gedanken machen: Hat man als Kunde überhaupt die Zeit, sich am Abend oder am Wochenende mit anderen Weihnachtsgeschenkjägern durch überfüllte Innenstädte zu quälen? Oder aber möchte man sich beraten lassen und sucht den Kontakt zu Menschen, statt sich nur mit einem virtuellen Warenkorb zu befassen? Es ist für jeden Kunden was dabei, solange man sich bewusst entscheidet.

Mitte November war ich für die Rhein-Zeitung im Amazon Logistikzentrum Koblenz. Der Besuch war Teil einer Recherche, wie sich Händler auf das Weihnachtsgeschäft vorbereiten. Hier verarbeite ich meine persönlichen Eindrücke.

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